"Ich verbringe manchmal acht bis neun Stunden am Stück vorm Computer, in Netzwerken oder mit Spielen", erzählt Tom Hübner (Name geändert). Er ist in einer ganzen Reihe von sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ angemeldet. Allein bei Wer-kennt-wen hat er mehr als 700 "Freunde". Aber Tom will weg vom Bildschirm, raus aus der Computerabhängigkeit. Hilfe hat sich der 28-Jährige in der Ambulanz für Spielsucht der Klinik für Psychosomatische Medizin an der Uni Mainz gesucht.
Die Mainzer Psychologen behandeln seit März 2008 speziell Computer- und Internet-Abhängige und zählen zu den Vorreitern in Deutschland. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Einrichtungen, etwa die Kinzigtal-Klinik im hessischen Bad Soden-Salmünster oder das Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover. Die Zahl der Computer- und Internet-Süchtigen in Deutschland wird auf mindestens zwei Millionen geschätzt. Belastbare Daten gibt es jedoch nicht.
Etwa 400 Menschen haben sich seit dem Start in der Mainzer Ambulanz gemeldet, mit 230 führten die Psychologen ein Erstgespräch. Von ihnen galten knapp 40 Prozent mit durchschnittlich rund sieben bis acht Stunden vor dem Computer an einem Wochenendtag als "missbräuchliche Nutzer", berichtet der psychologische Leiter, Klaus Wölfling. Als "abhängig" stuften die Experten rund 30 Prozent der Patienten ein – sie sitzen am Wochenende pro Tag manchmal mehr als zehn Stunden vor dem Monitor.
Ein Drittel der Betroffenen ist zwischen 19 und 22 Jahren alt, mehr als 20 Prozent sind älter als 30 Jahre. "Unter den Online- Süchtigen sind es meist die etwas älteren über 35, die sich krankhaft häufig in sozialen Netzwerken aufhalten", erklärt Wölfling. Was oft als "Flucht aus der Realität" beginne, führe in vielen Fällen zu fortschreitendem Realitätsverlust. "Beispielsweise verlieben sich Betroffene im Netz in jemanden, den sie nie gesehen haben." In einigen Fällen werde es auch zur Sucht, möglichst viele Kontakte in der Freundesliste vorweisen zu können.
Mehr als 40 Betroffene haben inzwischen eine Therapie in Mainz begonnen, die rund ein halbes Jahr dauert. Nach mehreren Einzelgesprächen treffen sich die Patienten einmal die Woche zur Gruppentherapie. "Durch die Sucht werden oft andere psychische Probleme verdrängt. Die können dann während der Therapie hochkommen – etwa Ängste oder Depressionen", sagt Wölfling.
"Ich will nicht so weiterleben", sagt Tom. "Die Zeit, die ich in der virtuellen Welt verbringe, möchte ich wieder in der realen Welt sein." Der 28-Jährige erzählt von einer problematischen Kindheit und seiner Drogenabhängigkeit. Nach dem Entzug sei er inzwischen seit sechs Jahren clean, holt das Abitur nach. "Wenn ich den Drogenentzug geschafft habe, dann schaffe ich es auch, von der Computersucht loszukommen", sagt er und es klingt ein bisschen trotzig.
Er muss lernen, mit dem Suchtmittel "Computer" maßvoll umzugehen. Ein kompletter Entzug – wie bei Drogen oder Alkohol – geht nicht. "Ich brauche ja den Computer, um zu arbeiten", sagt Tom, der als DJ jobbt und Musik-Events organisiert. An realen Bekannten und Freunden mangele es ihm eigentlich nicht, sagt er. Trotzdem fühle er sich zu Hause oft einsam. Im Internet finde er "eine feste Bandbreite von Leuten, die da sind". Allerdings könne man beim Chatten, Mailen und Computerspielen "die Nähe der Menschen nicht spüren".
Seine Computersucht hätte Tom fast das Abitur gekostet. Er sei kaum noch in die private Schule gegangen, für die er ein Stipendium hat. Zehn Tage vor den schriftlichen Prüfungen kam das Ultimatum der Lehrer: Entweder er gibt den Computer bis dahin ab oder er fliegt. Tom blieb und hat die Prüfungen geschrieben, jetzt stehen noch die mündlichen Tests an. Wenn alles klappt, will er Soziologie studieren, sich wissenschaftlich mit der Faszination virtueller Parallelwelten beschäftigen.
Mal angenommen, es klappt mit der Therapie und er bekommt die Computersucht in den Griff – was stellt er dann mit der neuen Freizeit an? "Ich habe Angst davor", gibt Tom zu – er hat aber auch schon Pläne. Früher habe er mit Begeisterung Krav Maga, eine Selbstverteidigungskunst aus Israel, gelernt. "Dann gehe ich wieder ins Training." ( Andrea Löbbecke, dpa) / (jk)
Quelle: Heise.de