„Es war eine sehr schwere Zeit“
Nach seiner Entlassung aus türkischer Untersuchungshaft und der Rückkehr nach Deutschland ist der 17- jährige Marco erleichtert und dankbar. „Ich bin überglücklich, dass ich mit meiner Familie wieder zusammen bin, mit meiner Mutter und meinem Vater, und dass ich mit meiner Familie Weihnachten feiern kann“, sagte er dem Nachrichtensender n-tv am Samstag. Der Schüler aus Uelzen in Niedersachsen dankte den Menschen, die ihn während der gut acht Monate dauernden Haft unterstützt hatten. „All das hat mir sehr viel Kraft gegeben, und dafür bedanke ich mich sehr.“ Ein Gericht im türkischen Antalya hatte Marco am Freitag auf freien Fuß gesetzt. Wo er sich am Wochenende aufhielt, war nicht bekannt.
Dem Fernsehsender RTL, der am Sonntag um 22.30 Uhr das erste ausführliche Interview mit dem Schüler ausstrahlen wollte, sagte Marco laut Vorab-Mitteilung des Senders: „Es war eine sehr schwere Zeit, und ich brauche jetzt erst einmal sehr viel Ruhe.“ Vor seiner Verhaftung sei er „ein ganz normaler deutscher Junge“ gewesen. „Ich bin, glaube ich, immer noch genauso wie vorher, aber habe sehr viele Sachen neu hinzugelernt.“ Nachdem er erstmals mit der Anschuldigung des sexuellen Missbrauchs konfrontiert wurde, „dachten wir erst einmal, dass das eine Verwechslung sei“, sagte der Schüler.
Auch im Gefängnis habe er zunächst noch gedacht, dass sich der Rückflug der Familie lediglich verzögern würde: „Wir dachten, dass es irgendwann in der Nacht oder am nächsten Tag geht. Aber das hat sich ja ein bisschen länger verschoben.“
Die Zeit im Gefängnis sei langsamer verlaufen als im normalen Leben: „Man kann sich ja ein bisschen die Zeit vertreiben mit Sport, mit Fernsehen. (...) Aber die Zeit wurde dann irgendwann wieder normaler, und man konnte sich dann immer besser die Zeit vertreiben.“
Noch in Antalya hatte Marcos Anwalt Michael Nagel mitgeteilt, dass der Jugendliche erst einmal nicht in seine Heimatstadt zurückkehren werde. Sein größter Wunsch sei es, mit seiner Familie allein zu sein und sich eine Woche lang von seiner Mutter verwöhnen zu lassen, sagte Nagel. „Marco ist in Niedersachsen herzlich willkommen“, sagte Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) der dpa. „Wir haben die ganze Zeit in engem Kontakt zur Familie gestanden.“ Jetzt müssten die Schulbehörden vor allem klären, wie es mit seiner Ausbildung weitergehe. Marco war zum Schuljahresbeginn Ende August im Bereich Technik einer zweijährigen Fachoberschule angemeldet. Seinen Realschulabschluss habe er trotz versäumter Prüfungen bekommen.
Nach 247 Tagen im Gefängnis war Marco am frühen Samstagmorgen mit einem Privatjet auf dem Nürnberger Flughafen gelandet. Er verließ den Airport gemeinsam mit Begleitern in einer Limousine mit unbekanntem Ziel. Der nächtliche Heimflug kam für viele Beobachter überraschend. Wegen des Andrangs von Reportern und Fotografen auf einer nahe gelegenen Aussichtsterrasse weigerten sich die Passagiere zunächst, aus dem Flugzeug auszusteigen. Erst als die Maschine gewendet hatte und einige hundert Meter weiter gerollt war, stiegen die Insassen in die wartende Limousine und ein Taxi. Die Wagen fuhren durch einen Nebenausgang vom Flughafengelände.
Am Freitag hatte ein Gericht im türkischen Antalya Marco ohne Auflagen auf freien Fuß gesetzt. Er soll während eines Osterurlaubs in der Türkei die 13 Jahre alte Britin Charlotte sexuell missbraucht haben, was er aber bestreitet. Der Prozess soll am 1. April in Antalya fortgesetzt werden. Deutsche Politiker reagierten mit Freude auf die Freilassung, kritisierten wegen der Verfahrensdauer aber auch zum Teil die türkische Justiz.
„Ich freue mich, dass Marco erst einmal frei ist und nach Hause kann“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Brüssel. „Das war überfällig und höchste Zeit“, sagte die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth der „Passauer Neuen Presse“. Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach sagte der „Frankfurter Rundschau“, eine achtmonatige Untersuchungshaft sei mit rechtsstaatlichen Regeln „nicht mehr zu rechtfertigen“ gewesen. CSU-Chef Erwin Huber kritisierte, die Türkei sei offenbar kein „Rechtsstaat in unserem Sinne“.
Aus Sicht der türkischen Justiz sei Marco zwar zur Teilnahme am Prozess in Antalya verpflichtet, sagte der Kölner Rechtsprofessor Thomas Weigend. Durchsetzen könnten die dortigen Behörden seine Anwesenheit aber nicht. „Das ist seinem guten Willen und seinem Pflichtgefühl überlassen“, sagte Weigend der dpa. Als deutscher Staatsbürger könne er nicht an die Türkei ausgeliefert werden. Er könnte dort aber in Abwesenheit verurteilt werden, falls das türkische Recht dies zulasse.
Theoretisch ist es nach Weigends Worten möglich, dass gegen Marco auch in Deutschland ein Prozess wegen sexuellen Missbrauchs geführt wird. Marcos bereits in der Türkei abgesessene Untersuchungshaft müsste dann angerechnet werden - wegen der Haftbedingungen mit einem höheren Faktor als eine vergleichbare Zeit in Deutschland.
Das deutsche Strafrecht gilt unabhängig vom Recht des Tatorts auch für eine ganze Reihe von Taten, die im Ausland begangen werden. Darunter fallen auch Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg ermittelt ohnehin gegen Marco. „Wir haben sämtliche Unterlagen der türkischen Justiz angefordert. Noch ist aber nicht alles angekommen und übersetzt“, sagte Sprecher Manfred Warnecke. Anschließend werde der Fall geprüft. Jetzt müssten der Schüler und seine Familie aber erst einmal zur Ruhe kommen. (dpa, N24.de)